Diskriminierung wegen Teilzeit: Proportionaler Zuschlagsbeginn zwingend
BAG, Urteil vom 26.11.2025 – 5 AZR 118/23
Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 26. November 2025 eine für Arbeitgeber
hochrelevante Entscheidung zu
Mehrarbeitszuschlägen bei Teilzeitbeschäftigten getroffen.
Tarifliche Regelungen, nach denen Zuschläge erst ab einer festen Wochenstundenzahl (z. B. ab der 41. Stunde)
gezahlt werden,
verstoßen gegen das Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 1 TzBfG, wenn sie
Teilzeitbeschäftigte nicht proportional berücksichtigen.
Die Entscheidung betrifft nicht nur den konkret entschiedenen Tarifvertrag, sondern hat grundsätzliche
Bedeutung für alle tariflichen und betrieblichen Zuschlagsregelungen.
Der Fall
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fand der Manteltarifvertrag für den bayerischen Groß-
und Außenhandel Anwendung. Dieser sah vor:
- regelmäßige Wochenarbeitszeit Vollzeit: 37,5 Stunden
- kein Mehrarbeitszuschlag bis einschließlich der 40. Wochenstunde
- danach: 25 % Mehrarbeitszuschlag
Der Kläger war teilzeitbeschäftigt mit 30,8 Stunden/Woche. Mehrarbeitszuschläge erhielt er erst,
wenn er die tarifliche Grenze von 40 Stunden überschritt, also deutlich später als Vollzeitkräfte
bezogen auf ihre individuelle Arbeitszeit.
Er machte geltend, darin liege eine unzulässige Benachteiligung wegen Teilzeitbeschäftigung.
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts
Das BAG gab dem Kläger Recht.
1. Verstoß gegen § 4 Abs. 1 TzBfG
Eine tarifliche Regelung, die Mehrarbeitszuschläge unabhängig von der individuellen Arbeitszeit
erst ab einer festen Stundengrenze vorsieht, benachteiligt Teilzeitbeschäftigte.
Maßgeblich ist der
Pro-rata-temporis-Grundsatz (§ 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG):
Arbeitsbedingungen müssen anteilig zur vereinbarten Arbeitszeit gewährt werden.
2. Teilweise Nichtigkeit der Tarifnorm
Die Tarifregelung ist gemäß § 134 BGB nichtig, soweit sie keine proportionale Absenkung
der Zuschlagsgrenze für Teilzeitkräfte vorsieht.
Die Folge ist nicht die komplette Unwirksamkeit, sondern eine Anpassung im Wege der Gleichbehandlung.
Kein sachlicher Rechtfertigungsgrund
Das BAG hat ausdrücklich klargestellt:
Die Benachteiligung lässt sich nicht mit dem Gesundheitsschutz oder einer besonderen Belastung erst ab
einer bestimmten absoluten Stundenzahl rechtfertigen.
Aufgrund des Unionsrechtsbezugs des § 4 TzBfG (vgl. Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit, RL 97/81/EG) gilt:
- keine bloße Willkürkontrolle
- sondern strenge unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung
Mehrarbeit ist auch für Teilzeitbeschäftigte typischerweise belastend. Eine starre Stundenuntergrenze trägt dem nicht Rechnung.
Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge (auch rückwirkend)
Teilzeitbeschäftigte haben nach der Entscheidung Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge, sobald sie
ihre individuelle Wochenarbeitszeit proportional überschreiten.
Rechtsgrundlage:
- § 612 Abs. 2 BGB
- iV. m. § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG
Wichtig für die Praxis:
Tarifvertragsparteien müssen nicht zuerst Gelegenheit zur Korrektur erhalten.
Im Anwendungsbereich unionsrechtlich geprägter Diskriminierungsverbote besteht keine „Schonfrist“.
Bedeutung für Arbeitgeber und Tarifvertragsparteien
Die Entscheidung hat erhebliche praktische Konsequenzen:
Für Arbeitgeber
- Überprüfung bestehender Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen und Vergütungsmodelle erforderlich
- Risiko rückwirkender Zahlungsansprüche (unter Beachtung von Ausschlussfristen)
- Anpassungsbedarf in Zeiterfassung und Lohnabrechnung
Für Tarifvertragsparteien
- Starre Schwellenwerte ohne pro-rata-temporis-Anpassung sind unionsrechtswidrig
- Gefahr einer gerichtlichen Korrektur statt tariflicher Gestaltung
Für Personalverantwortliche
- Mehrarbeitszuschläge müssen arbeitszeitbezogen differenziert betrachtet werden
- Gleichbehandlung bedeutet nicht Gleichmacherei, sondern Verhältnismäßigkeit
Das BAG stärkt konsequent den Schutz von Teilzeitbeschäftigten und verschärft die Anforderungen an Zuschlagsregelungen.
Arbeitgeber können sich nicht darauf verlassen, dass tarifliche Schwellenwerte automatisch Bestand haben.
Unsere Empfehlung:
Unternehmen sollten bestehende Regelungen zeitnah prüfen und anpassen, um Haftungsrisiken und Nachzahlungen zu vermeiden.
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